Impfpflicht-Debatte Lehrerin geigt Bundespräsident Steinmeier die Meinung Steinmeier diskutierte mit Bürger im Schloss Bellevue

Artikel von: RALF SCHULER veröffentlicht am 12.01.2022 - 20:36 Uhr

"Herr Bundespräsident, lassen Sie mich nur noch ganz kurz..."

Eigentlich hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (66) nur ganz neutral über "Pro und Contra einer Impfpflicht zur Überwindung der Covid-19-Pandemie" diskutieren wollen. Doch je länger das Gespräch am Mittwoch im Berliner Schloss Bellevue dauerte, desto mehr stahl ihm Gudrun Gessert, Lehrerin aus Kirchentellinsfurt in Baden-Württemberg, die Show. Lehrerin Gudrun Gessert war beim Bürgergespräch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier digital zugeschaltet
Foto: ddp/Andreas Gora, Bernd von Jutrczenka/dpa

"Impfpflicht bedeutet Debattenpflicht", so Steinmeier in seiner Vorrede. Er selbst werde sich da nicht einmischen, auch, weil er letztlich ein mögliches Gesetz darüber ja ausfertigen müsse. Aber natürlich gebe es keine "Corona-Diktatur". Das sei "bösartiger Unsinn".

Wie schwierig die nüchterne Lagebewertung ist, versuchte der Modellierer, Prof. Kai Nagel von der TU Berlin, zu erklären. Zwar würden die Corona-Wellen ähnlich aussehen, die innere Mechanik sei aber durchaus verschieden.

Habe die Impfung gegen die Delta-Variante noch gut gewirkt, sei das jetzt bei Omikron anders. Bei den Auffrischungsimpfungen (Booster) gegen Delta sei Deutschland zu spät in die Gänge gekommen, was sich jetzt gegenüber Omikron wieder als Vorteil erweise, weil mehr Leute einen vergleichsweise frischen Booster-Status hätten.

Er könne verstehen, dass junge Menschen mit meist leichten Verläufen das Risiko der Impfung im Vergleich zur Infektion anders bewerten würden. Nagel erinnerte aber an die Solidarität, die man gegenüber anderen mit der Impfung zeige.

Prof. Cornelia Betsch, die an der Uni Erfurt zu psychologischen Aspekten der Corona-Pandemie forscht, wies darauf hin, dass 60 bis 70 Prozent der Ungeimpften zu Protokoll geben, sich auf gar keinen Fall impfen lassen zu wollen. Viele hätten einfach Angst vor der Impfung. "Angst und Pflicht löst ein Gegengefühl aus", so Betsch. Sie plädierte vor allem für eine ganz andere Kommunikation mit den Menschen und vor allem mit den Skeptikern.

Lehrerin: "Impfen war nicht der Game-Changer"

Es müsse Schluss sein mit der polarisierenden Unterteilung zwischen Geimpften und Ungeimpften ("Wir sitzen doch alle im selben Boot"), sagte Lehrerin Gudrun Gessert, die aus dem heimischen Wohnzimmer per Video-Konferenz in den Großen Saal des Bellevue zugeschaltet war.

Ihr Votum: "Impfen ja, Zwang nein." Ihre Argumentation: Was bedeutet denn "geimpft" und soll demnach Pflicht werden? Einmal geimpft, zweimal, dreimal oder doch viermal? Ob die Pflicht dann immer dem jeweils neuesten Stand der Debatte angepasst werden solle, fragte sie.

Es sei eine "Pandemie der Ungeimpften" habe es geheißen, so Gessert weiter, nahezu die Hälfte aller Krankenhausfälle seien derzeit aber Durchbrüche - laut Wochenbericht des Robert Koch-Instituts lag der Anteil in den vergangenen Wochen bei der Altersgruppe 18-59 Jahre bei 32,7 Prozent, bei über 60-Jährigen bei 38,7 Prozent.

Gessert weiter: "Die Frage ist doch: Können wir mit der Impfpflicht die Pandemie besser überwinden? Ich sage: Nein! Impfen war nicht der Game-Changer, wie die Beispiele Bremen (mit hoher Impfquote) und Dänemark beweisen."

Gudrun Gessert debattiert mit Steinmeier

"Da muss ich Ihnen leider widersprechen, Herr Bundespräsident..."

Ruhig, aber bestimmt ging Gessert immer wieder dazwischen, wenn von der Solidarität mit den Mitmenschen die Rede war. Die Geimpften seien sehr wohl Träger des Virus und gäben es weiter, sodass dieses Argument eben nur begrenzt tauge.

Immer wieder hatte die Lehrerin die aktuellen RKI-Zahlen parat und konnte selbst mit Studien zu den im mRNA-Impfstoff enthaltenen Lipiden (Fetten) aufwarten, deren Zulassung umstritten sei. Selbst mit dem Zulassungsstatus der Impfungen brachte sie den moderierenden Bundespräsidenten in Schlingern, der wohl von einer Voll-Zulassung ausgegangen war, während die Arzneimittelbehörden lediglich eine einstweilige Freigabe erteilt haben.

Frank-Walter Steinmeier (2.v.l.) diskutiert mit Gästen im Schloss Bellevue sowie digital zugeschalteten Teilnehmerinnen und Teilnehmern über das Für und Wider einer Impfpflicht
Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Schützenhilfe für ihren Standpunkt erhielt Gessert von Oliver Foeth, Assistent der Geschäftsleitung in einem mittelständischen Betrieb bei Bamberg. Er sei nicht gegen die Impfung, aber gegen die Pflicht.

Es sei nicht unmoralisch, sich nicht impfen zu lassen, sondern unmoralisch, bei diesem aktuellen Erkenntnisstand einen Zwang einführen zu wollen. Der Impfstoff schaffe eben keine "sterile Immunität", mit der Ausbruch und Weitergabe des Virus bei Geimpften verhindern werden könnte. Die schnelle Zulassung und die mangelnde Erfahrung bei möglichen Langzeitschäden seien für ihn Argumente, die eine Pflicht zur Impfung unverhältnismäßig erscheinen ließe, so Foeth.

Alle Beteiligten waren sich am Ende einig, dass der sachliche Austausch und die ernsthafte Debatte einen Gewinn darstellen. Dass einer der Beteiligten durch das Gespräch seine Meinung geändert hätte, war nicht zu erkennen. Dass die Argumente der Gegner einer Impfpflicht gewichtig und nicht aus der Luft gegriffen erscheinen, wurde bei diesem Gespräch aber doch deutlich.


Quelle: Lehrerin geigt Bundespräsident Steinmeier die Meinung - Politik Inland - Bild.de